Mein Vater

Mein Vater war ein schwieriger Mann. Schwierig deshalb, weil er seine Gefühle versteckte. Bis auf die negativen …

Verzeihen können
Mein Vater war ein schwieriger Mann. Schwierig vor allem deshalb, weil er sehr verschlossen war und nie über das sprach, was er dachte und fühlte. Er behielt alles für sich. Dass es mal wieder in ihm rumorte, konnte man lediglich seinem angestrengt-finsteren Gesichtsausdruck entnehmen. Auch seine Gefühle zeigte er nicht – bis auf die negativen. Denn die brachen mit derselben Gewalt aus ihm heraus wie die Luft aus einem Dampfkochtopf, wenn man das Ventil aufdreht. Dabei musste gar nichts Gravierendes passieren, eine lächerliche Kleinigkeit schon konnte ihn zur Raserei bringen.


Ein Beispiel: Ich war ungefähr sieben Jahre alt und spielte mit meiner Puppenstube. Das Beste daran war der kleine Herd, auf dem ich Wasser kochen konnte. Die Energie dafür lieferten kleine Tiegelchen, den heutigen Teelichtern ähnlich. Damals allerdings musste man die selbst füllen. Also Späne von einer Kerze schaben, sie erhitzen und einen kleinen Docht in das weiche Wachs stecken. Diese Arbeit übernahm Manfred, mein älterer Bruder.


Eines Tages war es mal wieder so weit. Die Tiegelchen waren leer, und ich begab mich mit den notwendigen Utensilien zu Manfred, der am Wohnzimmertisch saß und dabei war, einen alten Radioapparat zusammenzubauen. Mein technisch begabter Bruder hatte das defekte Gerät von meiner Patentante geschenkt bekommen und erfolgreich repariert. Er schabte also die Späne von der Kerze und trug mir auf, die Tiegelchen auf den Ofen zu stellen. Dazu muss man wissen, dass wir in einem kleinen alemannischen Dorf wohnten, wo der Begriff Ofen gleichermaßen einen Herd wie auch einen Kachelofen bezeichnet. Manfred, in Schlesien aufgewachsen, meinte (wie mir bald klar wurde) den Kachelofen. Ich, in dem alemannischen Dorf aufgewachsen, meinte den Herd, ein Kohle und Holz fressendes Ungetüm aus Emaille und Eisen, das fast den ganzen Tag über befeuert wurde, um unsere Wohnung zu wärmen.


Ich stellte die Tiegelchen also auf den heißen Herd, und es dauerte keine Minute, bis das schmelzende Wachs überkochte und eine Heerschar winziger Wachströpfchen prasselnd über die heiße Herdplatte tanzte. Was gefährlich klang, war absolut harmlos, denn außer dass das Wachs sich in qualmende Luft aufgelöst hatte, war nichts passiert. Doch ich stand da wie zur Salzsäule erstarrt und schaute angstvoll meinem wütend aus der nebenan gelegenen Werkstatt herbei schießenden Vater entgegen. Seinem Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass ein schlimmes Vergehen vorlag. Und dass der Übeltäter umgehend bestraft musste, war auch klar.

»Der Manfred hat gesagt …«, stammelte ich nur.

Das harmlose Malheur und diese vier Worte reichten, dass mein Vater wie ein Berserker ins Wohnzimmer raste, meinem Bruder das Radio aus den Händen riss und mit voller Kraft auf die Tischkante donnerte, wo der gerade wieder zum Leben erweckte Apparat in tausend Teile zerfiel.
Damit aber nicht genug – nun war mein Bruder dran. Mein Vater zog ihn (den siebzehnjährigen Jungen) hinter dem Tisch hervor und prügelte auf ihn ein wie auf einen Schwerverbrecher.

Nachdem mein Vater sich ausgetobt hatte, ging er zurück in seine Werkstatt – ohne ein Wort zu verlieren.

Solche Vorfälle waren zwar nicht an der Tagesordnung, man musste aber trotzdem jederzeit mit ihnen rechnen – denn Anlass für einen Wutausbruch fand mein Vater jederzeit, und dann war er unberechenbar wie eine Orkanböe.

Auch mich hat er verprügelt. Aus genauso nichtigen Anlässen. Ich erinnere mich aber nicht mehr daran. Meine Psyche hat das schützende Mäntelchen des Vergessens darüber gelegt. Ich weiß nur aus Berichten meines Bruders darüber, der sich an jeden einzelnen Schlag erinnert. Es gab eine Situation, zu der Manfred sagt: „Hätte er dir noch einen einzigen weiteren Schlag verpasst, hätte ich ihn totgeschlagen …“

Als ich erwachsen war, habe ich versucht, mit meinem Vater zu reden. Habe ihm lange Vorträge über seinen Umgang mit uns gehalten, und er hat auch wirklich aufmerksam zugehört. Meistens hat er nichts gesagt, nur einmal kam eine Reaktion, nachdem ich ihm mal wieder – freundlich – die Leviten gelesen hatte. »Merkwürdig«, sagte er, »ich dachte immer, ich sei ein guter Mensch.«

Er meinte das vollkommen ernst. Denn ihm war ihm überhaupt nicht bewusst, wie ungerecht, cholerisch und Furcht einflößend er sein konnte. Und außer mir hat ihn auch kein Mensch darauf angesprochen. Weder meine Mutter noch meine Geschwister. Sie haben alles klag- und wortlos hingenommen. Meine Mutter immer mit der Hoffnung auf Besserung, meine Schwester mit Resignation und der Konsequenz, dass sie mit neunzehn Jahren heiratete und auszog. Mein Bruder folgte kurze Zeit später ihrem Beispiel – die Einberufung zur Bundeswehr kam ihm wie gerufen.

Ich bin auch mit neunzehn Jahren ausgezogen – ohne zu heiraten allerdings. Der Knechtschaft einer Ehe wollte ich mich niemals unterwerfen. Das hatte ich mir fest vorgenommen. Ich hab dann doch geheiratet … erst viel später allerdings.

Trotz der Geschehnisse empfand ich keine negativen Gefühle für meinen Vater, sondern eher Mitleid. Denn schon als kleines Mädchen hatte ich gespürt, dass nicht das Böse ihn getrieben hat, sondern die Verzweiflung. Und ich denke, es war der Krieg, der ihm so zugesetzt hat. Alles, was er geschaffen hatte, gut gehendes Pelzgeschäft in Breslau mit mehreren Angestellten, Ansehen bei seiner Kundschaft, schöne Wohnung – all das wurde durch Hitler zunichtegemacht. Fünf Jahre Kriegsgefangenschaft, ohne zu wissen, ob und wo seine Familie lebt. Das Ersparte durch die Währungsreform nichts mehr wert. Keine Arbeit, keine Wohnung, keine Möbel, nichts. Alles weg. Kompletter Neuanfang mit Ende vierzig. Und dann noch der falsche Beruf – denn nach dem Krieg war den Menschen in Deutschland alles andere wichtiger als Pelzmäntel.

Mein Vater hat sich seinem Schicksal ergeben. Er hatte ohnehin keine Wahl. Wütend auf Gott und die Welt hat er sich durch die zweite Hälfte seines Lebens gekämpft (er wurde 93). Seine erste Anstellung nach seiner Heimkehr hat er nach drei Monaten hingeschmissen. Er war kein Typ, der sich was sagen ließ. Kann ich verstehen, ich bin ähnlich. Er hat sich wieder selbstständig gemacht. Hat Grundelemente für Pelzmäntel für eine große Firma produziert. Hat Hunderte von kleinen Pelzstücken in Form geschnitten und passend gemacht. Zusammengenäht wurden sie von einer jungen Frau aus dem Dorf, wo wir mittlerweile eine Wohnung gefunden hatten. Mit Plumpsklo neben dem Schweinestall, mit Kakerlaken in der Küche und mit Mäusen und Ratten, die nachts durch die Zimmer huschten und im Speicher Wettrennen veranstalteten.

Wenn er keine Aufträge hatte, zog mein Vater als Hausierer durch die Dörfer. Verkaufte Dosenöffner und Schnürsenkel. Was das für diesen stolzen Mann bedeutete, kann ich nur ahnen. Aber er hat es getan. Er hat seine Familie ernährt und ihr das gegeben, was in seiner Kraft stand. Und aus seinen Kindern ist was geworden. Auch wenn für alle drei der Weg nicht leicht war – aber für viele andere war er das auch nicht.

Mein Bruder hasst unseren Vater, der längst nicht mehr lebt. Und ich befürchte, er wird ihn für den Rest seines Lebens hassen, denn er sagt jedes Mal kategorisch »Nein«, wenn ich meine, er solle doch verzeihen.

Als ich vor Jahren meinen Vater das letzte Mal sah, war er ein alter, klein gewordener, schwerhöriger und fast blinder Mann. Witwer seit langer Zeit, denn Mama ist frühzeitig gegangen. Als ich diesen Mann in seinem Sessel sitzen sah, diesen Mann, vor dem ich über so viele Jahre Angst gehabt hatte, da spürte ich wieder dieses alte Gefühl in mir aufkommen. Ein Gefühl von tiefem Verstehen. Ein Verstehen ohne intellektuelle Begründung, dafür mit menschlicher Nähe. Und ich erinnerte mich daran, dass dieser Mann, der einerseits so schnell explodierte und zuschlug, andererseits Regenwürmer gerettet hat. Beim Spaziergang nach einem Regenguss hebelte er sie mit einem Strohhalm von der Straße und warf sie in die Wiese – um sie vor todbringenden Traktorreifen zu schützen. Und ich erinnerte mich daran, wie er mir nachts die verrutschte Decke fürsorglich über die Schultern zog. Und ich erinnerte mich daran, wie behutsam er meinen kleinen Kater streichelte, als ich ihn auf seinen Schoß setzte. Und ich erinnerte mich daran, wie er mich auf dem Bahnhof umarmte, als ich im Begriff war in den Zug zu steigen, mit dem ich zu dem Job ins ferne Ausland fuhr. Und ich erinnerte mich daran, wie zart und liebevoll er die Hand meiner Mutter in die seine nahm – als sie mit schwerem Herzinfarkt im Krankenhaus lag.

Mein Vater war ein Mann, der seinen Schmerz über erlittene Verluste und verletzte Würde nicht gezeigt, sondern kompensiert hat. Er sei ein sehr zärtlicher Liebhaber gewesen, hat meine Mutter mir mal anvertraut, nachdem die Zeit der Leidenschaft längst vorbei war. Das habe ich ihr aufs Wort geglaubt.

»Ich hab dich lieb«, sagte ich zu ihm, als er so verhutzelt und in sich zusammengesunken in seinem Sessel saß, ich vor ihm kauerte und meine Hände um seine mageren Oberschenkel legte. Meine Worte kamen von Herzen, und der alte Mann, mein Vater, lächelte versonnen. Ich wünschte, ich könnte diese Worte noch einmal zu ihm sagen, um wieder dieses Lächeln zu sehen. Denn er hat viel zu wenig gelächelt in seinem Leben.

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