Der Prolog

Hier ein Teil des ersten Kapitels meines Buches. Ich habe viele Jahre gebraucht, um es zu schreiben.

Hier ein Teil des ersten Kapitels meines Buches. Ich habe viele Jahre gebraucht, um es zu schreiben.

Meinen ersten Männerschwanz hatte ich mit fünfzehn in der Hand. Der Besitzer des Körperteils hieß Hartmut. Er war ein ansehnlicher, sanftmütiger Kerl, acht Jahre älter als ich, studierte Volkswirtschaft und hatte einen anständigen Charakter, denn er beschränkte sich bei unseren Treffen auf den Unterricht in Handarbeit. Hin und wieder streichelte er zärtlich meine aufkeimenden Brüste, weitergehende sexuelle Handlungen fanden nicht statt. Für richtigen Sex sei ich ihm zu jung, dafür bevorzuge er erwachsene Frauen. Das teilte er freimütig mit, mit dem für ihn typischen Lächeln – weise und spitzbübisch. Ich kann es heute noch vor mir sehen.
Hartmut war ein einfühlsamer und geduldiger Lehrmeister, ich eine lernbegierige und fingerfertige Schülerin. Entsprechend war das Ergebnis. Bestnote, versicherten all die Männer verzückt, die nach Hartmut kamen, und das waren nicht wenige. Konkrete Zahlen kann ich nicht nennen, nach dem ersten Dutzend habe ich aufgehört zu zählen.
Überhaupt die Männer – sie spielten eine wesentliche Rolle in meinem Leben. Als ich zwanzig war, gesellte sich eine Protagonistin hinzu: die Bulimie. Über zwei Jahrzehnte lebte sie an meiner Seite, unsichtbar für die Menschen um mich herum, stets präsent für mich. Ich vermutete einen Zusammenhang zwischen meinen Männern und meiner hartnäckigen Lebensbegleiterin, kam über Vermutungen aber nicht hinaus. Da ich den Dingen des Lebens gern auf den Grund gehe, wollte ich das ändern. Die Frage war: Wie soll ich das bewerkstelligen?
Gespräche mit Therapeuten (die ich – natürlich – aufgesucht hatte) brachten mich keinen Schritt weiter. Ich erfuhr von ihnen nichts über mich, das mir nicht schon bekannt gewesen wäre. Einige Situationen waren sogar so, dass ich geneigt war, dem Gegenüber vorzuschlagen, die Plätze zu tauschen …
Doch dann lief mir Gregor Hansen über den Weg. Konkret gesagt lief er nicht, sondern saß – auf dem knallroten Sofa eines Fernsehstudios, im frühen Abendprogramm eines Regionalsenders.
Ich saß ebenfalls auf einem Sofa. Es war nicht rot, sondern mit cremefarbenem Leinenstoff überzogen, und stand in meinem Wohnzimmer. Mein absoluter Lieblingsplatz, auf dem ich lesender- oder fernsehenderweise den Großteil meiner Freizeit verbrachte – Seite an Seite mit Kater Felix, meinem verschmusten Findlingskater aus dem Tierheim. Pechschwarz, mit weißen Fellsöckchen an den Vorderbeinen, weißen Fellkniestrümpfchen an den Hinterbeinen, weißen Schnurrhaaren und grünen Augen, die je nach Lichteinfall mal wie Turmaline, mal wie Smaragde leuchteten. Ich liebte das Tier mit einer Hingabe, wie ich nie einen Mann geliebt hatte, obwohl ich Felix immer wieder damit drohte, ihn zurück ins Tierheim zu bringen. Er benutzte nämlich die Seitenlehnen des Sofas zur Krallenpflege und hat im Laufe der Zeit die meisten Querfäden des Stoffes mit seinen skalpellscharfen Krallen erst durchtrennt und die hervorstehenden Fadenenden dann nach und nach mit den Zähnchen gepackt, rausgezogen und mit schüttelndem Kopf auf den Fußboden gespuckt. Nach getaner Arbeit schaute er mich mit großen Augen an, als wollte er sagen: »Das Design ist jetzt besser, findest du nicht auch?« Der Versuch, seine Sofaveredelung zu unterbinden, indem ich Stoffbahnen über die Seitenlehnen legte, schlug fehl – weil es dem kleinen Kerl sichtliches Vergnügen bereitete, den Stoff mit den Vorderpfoten runterzuzerren, sich mit Siegerpose mitten drauf zu setzen, auf allen vieren darin herumzufuhrwerken und mit den Hinterpfoten energisch zu bearbeiten. Danach rannte er weg, aber nur, um mit Anlauf wieder draufzuspringen und übers Parkett zu rutschen. Anschließend machte er es sich auf dem verwurschtelten Stofffetzen bequem und hielt ein Nickerchen.
Ich saß also Seite an Seite mit Felix auf dem malträtierten Sofa und zappte durch die Programme, als auf dem Bildschirm dieser Mann auftauchte. Die Handschrift eines Menschen sei eine Art Biografie in Kurzform, sagte er. Durch sie könne ein Graphologe oft mehr über den Schreiber erfahren als ein Psychologe in vielen Stunden Gesprächstherapie.
Ich legte die Fernbedienung zur Seite.
Nachdem sich die Moderatorin eine Viertelstunde später von ihrem Besucher verabschiedet hatte, suchte ich in der Mediathek nach Hinweisen zur Sendung und den Namen des Gastes, wurde fündig, ging ins Arbeitszimmer, setzte mich vor den Computer, öffnete den Internetbrowser und gab als Suchbegriffe ein: Hansen, Graphologe.

Fortsetzung im Buch

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